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  • AutorenbildJO.

Der See

Erinnerungen an eine glückliche Kindheit


Still lag er da, »Der See«, an diesem frühsommerlichen Morgen. Kein Windhauch kräuselte die Oberfläche. Die dunklen hohen Bäume am gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich im Wasser. Aus dem Schilfgürtel, der den See umschloss, kam hier und dort eine Entenmutter gefolgt von ihren frisch geschlüpften Küken in gerader Linie. Teichhühner verschwanden unter der Wasseroberfläche und tauchten an unerwarteter Stelle nach einiger Zeit wieder auf. Wenn man genau hinsah, konnte man den einen und anderen Graureiher im Schilf erkennen. Ganz ruhig verweilte er eine lange Zeit, bis sich ein Fisch in seine Nähe verirrte. Dann schnappte er blitzschnell zu und verschluckte den ganzen Fisch im Ganzen.


Die Reiher kamen morgens angeflogen. Abends verließen sie den See wieder, um in ihren Nestern, die in weit entfernten Bäumen sicher angelegt waren, die Nacht zu verbringen. Irgendwo im dichten Wald nistete ein Seeadlerpaar. Wir bekamen es nie zu sehen, wussten aber davon. Förster Marquart hatte es uns ihm erzählt.

Dafür beobachteten wir die Bussarde, die ohne Flügelschlag mit schwebender Leichtigkeit im Aufwind ihre Kreise zogen. Der eindringliche Ruf des Bussards, das aufgeregte Quaken der Stockente in der Paarungszeit, der ganz besondere Geruch des etwas modrigen, warmen Seewassers, das Rauschen des Waldes im Wind und der Ruf der Eule in der Nacht ist bis heute in unserer Erinnerung tief verwurzelt. Am südlichen Ufer lag, auf Pfählen im Wasser am Uferrand gebaut, lag „Die Hütte“. Hier verbrachten wir die meiste Zeit des Sommers. Und im Winter, wenn der See zugefroren war kamen wir zum Schlittschuhlaufen.


Unser Opa hatte das Fischgewässer vom Fiskus gepachtet. Um seine Netze und Reusen unterzubringen, war ihm erlaubt worden die Hütte zu errichten. Sie durfte aber nicht auf dem Land stehen, das verbat sich, weil das Gebiet unter Naturschutz stand. Also hatte man Pfähle direkt am Ufer in den moorigen Seeboden gerammt und darauf die Hütte errichtet. Innen war alles recht primitiv. Aber gerade das machte den besonderen Reiz aus. Es gab keinen elektrischen Strom und kein Wasser. Zum Kochen wurde eine sogenannte Brennhexe mit Holz aus dem Wald befeuert. Wasser holten wir mit großen Milchkannen vom Brunnen im Quellental. Petroleumlampen und Kerzen erzeugten des Abends eine heimelige Atmosphäre. Und das Prasseln der dicken Tropfen eines Sommerregens auf das dünne Holzdach über unserem Schlafplatz vermittelte ein wohliges Gefühl der Geborgenheit. Ein Steg führte über den sumpfigen Uferboden zum Eingang. Für mich begann das „Abenteuer See“ eher dramatisch. Aus unerfindlichem Grund hatte ich eine panische Angst vor dem Wasser, wollte nicht über den kleinen Steg in die Hütte gehen und glaubte sogar, das ganze Haus könnte untergehen.

Nur mit großer Mühe konnten meine Eltern mich beruhigen. Die Angst aber blieb.


Eines Morgens sah ich kleiner Knirps meine Schwestern in einem gelben Militär-Schlauchboot auf dem See nahe der Hütte treiben und glaubte sie in höchster Lebensgefahr, aus der ich sie erretten musste. In der einfältigen Vorstellung des Fünfjährigen ergriff ich ein Brett, rührte damit im Wasser, um damit das Boot ans Haus zu bewegen und stürzte prompt in den See. Die Mädchen schrien und unsere Mutter kam in Panik auf den Steg gestürmt. Mutti packte mich am Kragen und zog mich aus dem Wasser- riesen Geschrei, Kleidung schnell ausgezogen, in ein großes Handtuch gehüllt, auf den Küchentisch gesetzt und trocken gerubbelt. Es war ja alles gar nicht so schlimm. Trotzdem gab es dann zur Beruhigung die Medizin, die bei Kindern in so einem Fall immer hilft: Bonbons. Die gab es natürlich so kurz nach Kriegsende bei der großen Lebensmittel-Knappheit nicht. Aber man wusste sich zu helfen: Zucker wurde mit etwas Margarine in der Pfanne karamellisiert und dann in Stücke geschnitten. Fertig waren die Bonbons.


Das wirklich Erstaunliche war, dass nach diesem Vorfall nicht nur meine Wasser-Phobie verschwunden war, sondern ich – im Gegenteil – fortan vom Wasser nicht mehr wegzubewegen war. Der Bann war gebrochen. Es war auch der Beginn einer Abenteuer-Sehnsucht, die mich mein Leben lang begleitet hat. Und es hat natürlich ganz wesentlich dazu geführt, dass ich mich seitdem bis heute von dem Meer angezogen fühle.


Der See war unser Ozean. Wir durchkreuzten ihn mit den Booten als Entdecker neuer Kontinente, fochten Seeschlachten oder kaperten als Piraten fremde Schiffe. Unsere „Gefangenen“ setzten wir gelegentlich auf einer Schilfinsel aus. Zum Segeln, es gelang natürlich nur vor dem Wind, diente uns eine Wolldecke.


Eine unserer Lieblingsbeschäftigungen war das Angeln. Im See gab es Karpfen, Schleie, Aale und Plötzen. Auch beim Setzen der Reusen durften wir helfen und dabei sein, wenn sie am nächsten Morgen mit dem Fang wieder eingeholt wurden. Das war immer ein spannender Moment.


Selbstgefangener Fisch schmeckte besonders gut, trotz der vielen Gräten. Krabben, bei uns hießen sie Krebse, angelten wir von der sogenannten Krebsbrücke aus. Als Köder verwendeten wir das Fleisch der Miesmuschel. Wenn der Krebs erst einmal mit seiner großen Schere zugebissen hat, lässt er nicht wieder los. Die Krebse haben wir, wenn genügend Tiere gefangen waren, später auch selbst gekocht und gegessen. Wobei essen nicht das richtige Wort dafür ist. An diesen relativ kleinen Krabben ist nicht viel Fleisch dran. Aber das Aussaugen der Scheren und Beine war einfach ein köstliches Vergnügen.


Alljährlich, wenn der Frühling sich mit den ersten warmen Tagen ankündigte, erwachte die Ungeduld – wann geht es an den See? Dann war es endlich soweit. Die Sonnenflut leuchtete durch das Blätterdach aus frischem Grün und ließ die trüben Tage des Winters vergessen. Überall, auf dem Wasser, im Schilf und im Wald regte sich neues Leben.

Aber das Wichtigste, der Sommer und die großen Schulferien waren nicht mehr weit. Wenn er endlich da war, schien die Freiheit unbegrenzt.


Auch der Herbst hatte einiges zu bieten, den frischen Wind und einen Rausch von Farben. Noch war es nicht zu kühl. Erst im November konnte es recht ungemütlich werden. Dann erwarteten wir schon sehnsüchtig den Winter, wenn der See zufror. Es war die Zeit des Eislaufvergnügens. Jede Jahreszeit hatte ihre eigenen Stimmungen, ihre eigenen Bilder, Geräusche und Gerüche. Der See war unser Kindheitsparadies. Er hat unsere Phantasie beflügelt und die Sinne geschärft. Und all diese wunderbaren Eindrücke sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben.


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