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Herbstfreuden

EIN WEHMÜTIGER RÜCKBLICK AUF SCHÖNE KINDHEITSERLEBNISSE


Herbst, das hieß für uns Kinder zunächst Ende der Badesaison, Adieu zu den kurzen Hosen, dafür Anorak und dicke Pullover. Aber auch viel Wind - ideal zum Drachenfliegen - und lange Fahr- radtouren mit unseren Freunden. Vor allem aber sind mir die Aus- flüge mit der ganzen Familie in die schöne Schleswig-Holsteinische Landschaft in Erinnerung. Außer, dass es ein Naturerlebnis war, diente es auch einem ganz praktischen Zweck.



Es war die Zeit kurz nach dem Krieg. Die Lebensmittel waren rationiert und viele Menschen lebten am Existenzminimum. Eine miserable Ernte im Herbst 1945 verschlechterte die Situation zusätzlich. Erst nach der Währungsreform im Juni 1948 entspannte sich die Lage. Es bot sich also an, als Lebensmittel, dass zu nutzen, was die Natur kostenlos zur Verfügung stellte. In Schleswig-Holstein waren es die berühmten „Knicks“ mit ihren Sträuchern und Wildobstgehölzen mit vielen Beeren, Nüssen und Früchten, die zur Ernte einluden. Wir hatten zwar Omas Garten, aber der Ertrag an Obst und Beeren musste mit der Verwandtschaft geteilt werden. Der Vorrat reichte also nicht für den langen Winter. Deshalb zog es die ganze Familie, mit Kannen und Körben versehen, an den Wochenenden im Herbst zur Ernte hinaus in Knick und Wald. Nicht nur, dass es einem praktischen Zweck diente, es war auch ein fröhliches Gemeinschaftserlebnis und Beisammensein, an dem häufiger Nachbarn und Freunde teilnahmen.


Äpfel, Birnen, Quitten, Fliederbeeren, Hagebutten, Brombeeren und Schlehen fanden sich in großer Menge. Bei Birnen muss ich übrigens noch heute an das Gedicht von Theodor Fontane denken, das alle Schulkinder auswendig lernen mussten, vom „Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand“...

Die Früchte wurden eingemacht oder zu Saft und Marmelade verarbeitet. Ein Teil der Ernte wurde zum kurzfristigen Verbrauch zurückgehalten, zum Beispiel die kleinen harten Birnen für das typische Norddeutsche Gericht „Birnen, Bohnen, Speck“, auf Plattdeutsch auch unter dem Namen „Broken Sööt“ bekannt, oder die Fliederbeeren für die ebenso typische Fliederbeersuppe mit Grießklößen.

Besonders beliebt waren darüber hinaus Schlehen. Sie mussten nach dem ersten Frost gepflückt werden, denn erst dann ist ein Teil der bitter schmecken - den Gerbstoffe in den Früchten abgebaut. Es war Vaters Aufgabe aus den reifen Schlehen den allseits beliebten Likör herzustellen. Nach seinem Rezept wurden die Früchte mit Zucker und Korn angesetzt. Die Aromastoffe, die er hinzufügte, hielt er geheim. Dieser Ansatz lagerte für mehrere Monate, bevor er nach dem Filtern und Abfüllen schließlich als Schlehenlikör zu genießen war.


Wenn wir in einem Jahr reichlich Schlehen ernten konnten, kochten wir daraus auch Marmelade.

An manchen Wochenenden zog es uns zum Pilze Suchen in den Wald. Allerdings ohne Vater. Er war allergisch gegen Pilze. Schon kleine Mengen, nicht nur im Essen, verursachten schwere Atemnot bei ihm.

Für das Pilze Suchen waren spezielle Kenntnisse erforderlich und dafür musste Oma mitkommen. Sie konnte als Einzige die essbaren von den giftigen Pilzen unterscheiden. Das hatte sie bereits im ersten Weltkrieg gelernt, als es eine Hungersnot in Deutschland gab. Synonym steht dafür der Begriff „Steckrübenwinter“, an den sich wahrscheinlich nur wenige ältere Menschen noch erinnern.


Wie allgemein bekannt, halten Pilzsammler die besonders ertragreichen guten Stellen im Wald geheim. Das taten wir auch und achteten dabei darauf, dass keine „Sammler Konkurrenz“ in unserer Nähe war. Es gab damals sehr viele Pilzsammler. Deshalb war es wichtig, früh morgens möglichst die Ersten im Wald zu sein.

Um die ganze Aktion noch attraktiver zu machen, wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Der Sieger, der den Korb mit dem größten Gewicht, d. h. den meisten Pilzen vorweisen konnte, erhielt einen Preis. Mit vollen Körben kamen wir abends Heim. Eine Portion Maronen wurde sogleich geputzt und mit Butter und Zwiebeln in der Pfanne gebraten – die Belohnung für alle Sammler. Es gibt nichts Schmackhafteres. Steinpilze, Austernpilze, Butterpilze und der Rest der Maronen wurden im Ofen getrocknet. Damit bereitete Mutter dann im Winter verschiedene Gerichte, zum Bei- spiel ein Pilzrisotto. Vater bekam natürlich ein Extragericht ohne die Pilze. Die Küche wurde in dieser Zeit zum wichtigsten Ort im Haus.

Der Herbst ist auch die Sammelzeit für andere Früchte des Waldes, z.B. Eicheln, Kastanien und Bucheckern. Wir Kinder gingen deshalb wochentags ohne die Eltern in den Wald. Eicheln und Kastanien lieferten wir beim Förster ab. Er nutzte sie für die Wildfütterung. Bucheckern waren auch gefragt. Aber sie zu sammeln war uns ein zu mühsames Geschäft. Wir ver- zichteten deshalb darauf. Wir bekamen für das Sammelgut ein paar Groschen, die natürlich in die Spardose wanderten. Ein wichtiger Beitrag, denn von unserem mageren Taschengeld blieb nicht viel übrig, nachdem wir davon Schreibmaterial und Schulhefte gekauft hatten.

Vier Monate nach der Währungsreform 1948 fand der erste Welt- spartag nach dem Krieg bei uns in Deutschland wieder statt. Die Sparkassen warben mit kleinen Geschenken für die Eröffnung eines Sparkontos. Das war sehr verlockend, denn es gab sogar Zinsen. Fortan wurden dann unsere Spardosen oder Sparschweine jeweils am Weltspartag am 31. Oktober geleert und das Geld auf unsere Sparkonten eingezahlt. Mit steigendem Wohlstand zogen immer weniger Menschen hinaus in Knick und Wald. Es gab alles zu kaufen. Warum sollte man sich da noch die Mühe machen, zu ernten, und viel Zeit mit dem Einmachen zu verbringen. Das ist sehr schade, denn damit gingen auch viele soziale Verbindungen verloren. In letzter Zeit habe ich allerdings den Eindruck, dass sich mehr und mehr Menschen wieder auf die Vergangenheit besinnen und diese Zeit wiederbeleben.

IN DER KOLUMNE RÜCKBLICK BERICHTET GASTAUTOR PETER BORGWARD REGELMÄSSIG ÜBER PERSÖNLICHE ERLEBNISSE.


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