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Zurück ins eigene Element


ein Interview mit Kirsten Bruhn


Ein Unfall, der ein ganzes Leben umkrempelt – das musste Kirsten Bruhn erfahren. Mit 21 Jahren war sie im Urlaub auf der griechischen Insel Kos in einen Motorradunfall verwickelt, der für sie alles änderte. Plötzlich konnte sie nicht mehr laufen, das angedachte Studium nicht mehr in Angriff nehmen und ihre Leidenschaft das Leistungsschwimmen, dem sie seit Kindertagen nachging, war passé.


Allerdings nur vorerst. Kirsten Bruhn tauchte wieder ins Schwimmbecken ein und wurde zu einem der größten Aushängeschilder des deutschen Behindertensports. Der Weg dorthin brachte ihr den Mut für den Alltag zurück und auch die Begeisterung am Leben. Reichlich medaillenbehangen zählt die dreifache Paralympics-Siegerin zu den erfolgreichsten Handicap-Schwimmerinnen und ist seit ihrem Karriereende 2014 eine wichtige Repräsentantin und Botschafterin für Prävention und Sport. Da die mittlerweile in Berlin lebende Ausnahmefrau mal wieder im Norden zu Besuch war, nutzte JO direkt die Chance und ließ sich ihre Geschichte erzählen.


Der allererste Gedanke, der Kirsten Bruhn nach ihrem Unfall durch den Kopf fuhr, war:„Ich werde doch jetzt wohl hoffentlich nicht querschnittsgelähmt sein und mein Leben im Rollstuhl verbringen müssen.“ Nach einem kurzen Innehalten schildert die heute 49-Jährige ihre Erinnerungen an den Rettungsvorgang: „In erster Linie war da diese Hitze der brennenden Mittagssonne. Um mich herum war alles hektisch und ich hatte eigentlich nur Angst, dass aufgrund dessen alle das Falsche machen. Und Letztendlich kam es auch so. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist die Situation an der medizinischen Station auf der Insel. Als ich merkte, die Ärzte sind völlig überfordert. Sie konnten kein oder nur ganz schlecht Englisch und ich konnte kein Griechisch. Also konnten wir uns kaum verständigen. Ich habe immer nur gehofft, dort wegzukommen. Wie auch immer. Nach vier Stunden landete ein Rettungsflug aus München, der mich zurück nach Deutschland bringen sollte. Eine ewig lange Zeit. Vor dem Rückflug brach die Vorderachse. Also alles wieder zurück. Eine Situation, in der ich schon gar nicht mehr klar im Kopf gewesen bin. Die einzige Realität, die ich spürte, waren die Schmerzen, die ich mir so sehr weg wünschte.“


Zurück in Deutschland erhielt Kirsten Bruhn die Diagnose einer inkompletten Querschnittslähmung. Die schlimmste Befürchtung war Realität geworden – ihr wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Ganz neue Herausforderungen lagen vor ihr. „Im Grunde waren es erst einmal diese ‚Kleinigkeiten‘, wie ich meinen Alltag bestreiten kann. Wie komme ich alleine aus dem Bett? Wie kann ich mich anziehen? Es war anfangs alles von Schmerzen geprägt. Alles war neu. Selbst das Sitzen ging ja nicht mal alleine. Wenn man die untere Körperhälfte nicht spürt, dann ist es nicht leicht getan, einfach gerade zu sitzen und die Balance zu halten.“ Ein langwieriger Lernprozess stand für sie an, um sich wieder selbstständig in den eigenen vier Wänden zurechtzufinden. Kirsten Bruhn überlegt kurz, während sie einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse nimmt: „Alles in allem habe ich schon so zwei bis drei Jahre gebraucht, um alleine in der Wohnung klarzukommen. Nach und nach habe ich gelernt, wieder stehen zu können.


Foto: Marco Knopp

Das war ein ganz wichtiger Punkt. Denn zuvor hatte ich das Gefühl, nur noch aus meinem Oberkörper zu bestehen. Immer nur in dieser sitzenden Position mit Menschen zu sprechen, hatte zum einen etwas Frustrierendes und zum anderen irgendwie etwas Herabsetzendes. Ich kam mir wieder vor wie ein Kind. Ich bin eigentlich groß gewachsen mit 1,77 Meter. Das habe ich immer sehr genossen.“ Doch auf einmal zählte diese Größe nicht mehr. „Da tauchte auch wieder so eine Art Kindchenschema auf “, beklagt sie. „Dein Gegenüber guckt meist zu dir herunter und das gibt den anderen oftmals – zumindest selbst gefühlt – die Dominanz. So habe ich das gefühlt und das war sehr unangenehm.“


Trotz all dieser neuen, teilweise zermürbenden Umstände dauerte es keine zwei Monate, bis die Wassersportlerin wieder in einem Schwimmbad zu finden war. Wenn auch erst einmal zwecks therapeutischer Maßnahmen. Nach einigen Wochen der Therapie kam es zu einem entscheidenden Vorfall, von dem Kirsten Bruhn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen erzählt: „Während der Therapie sollten wir in einem Kanu versuchen, die Balance zu halten und dann eine Eskimorolle machen. Das habe ich natürlich nicht geschafft, bin im Wasser gelandet und musste zusehen, dass ich wieder hochkomme. Dadurch bin ich geschwommen. Und das war für mich ein Aha-Erlebnis, weil es mir gelang, so wieder hochzukommen, aber auch weil ich spüren musste, dass die Körperhaltung im Wasser jetzt eine ganz andere war. Und da das Wasser nun mal mein Element ist, hatte diese Ereignis einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen.“ Durch das Schwimmen konnte sie plötzlich wieder eine Parallele zu ihrem vorherigen Leben aufbauen. „Das Schwimmen war für mich schon immer elementar. Und so hatte ich wieder eine Zielsetzung. Ich wollte, dass das, was ich da im Wasser mache, auch wieder nach Schwimmen aussieht und nicht nach irgendeinem Hundegepaddel“, während sie das ausspricht, wandelt sich ihr Lächeln in ein Lachen. Dieses Ziel versprach positive Ablenkung von den Dingen, die nicht so schön, aber trotzdem da waren. Es ließ sie laut eigener Aussage nicht nur wieder die innere Mitte und eine gewisse Zufriedenheit spüren, sondern es führte sie auch wieder in Richtung Leistungssport. Insbesondere in der zweiten Kur sah sie einen Auslöser für diese Rückkehr. „Allein der Gedanke, erneut zur Kur zu müssen, war mir einfach zu wider. Ich wollte das nicht“, schildert Kirsten Bruhn mit trockener Stimme und leicht verkniffener Mimik. „Schon die erste Kur war unerträglich. Es ging immer nur um die Dinge, die ich nicht mehr konnte. Es ging immer nur um die Dinge, die mir wehtaten. Statt sich einfach auf das zu fokussieren, was man hat, womit man arbeiten und worauf man etwas aufbauen kann. Das ist eigentlich das, was ich in meinem Leben gelernt habe. Ich habe fast darum gebettelt, nicht zu diesen Gruppentherapien zu müssen. Das ging mir einfach auf den Keks – dieses Geseier und Gejammer dort. Also habe ich gefragt, ob ich stattdessen zum Schwimmen könne.


Foto: Marco Knopp

Und das durfte ich dann auch. Dabei fiel dem beaufsichtigenden Therapeuten auf, dass das, was die Sportlerin dort im Schwimmbecken machte, ziemlich gut war. Sie solle das doch mal in Wettkämpfen unter Beweis stellen, schlug er ihr damals vor. Doch trotz dieser Wohlfühlmomente in ihrem Element winkte Kirsten Bruhn ab. „Das Wort Wettkampf passte für mich nicht zu meiner Situation“, begründet sie kurz und knapp. Allerdings drückte ihr der Therapeut einen Zettel in die Hand, auf dem der Name eines Ansprechpartners für den schleswig-holsteinischen Behindertensport zu lesen war. „Zu Hause ist meinem Vater dieser Zettel vor die Füße gefallen und er hat mich mit seinem typisch väterlichen Blick gefragt, was ich denn zu verlieren hätte“, schildert sie den Grund für ihren Meinungsumschwung. „Tja, Eltern haben eben meistens recht. Ich hatte nichts zu verlieren. Das war etwas, was ich ausprobieren musste, um dann zu beurteilen, ob es geht oder nicht. Also habe ich trainiert. Und das hat mich wieder zum Leben erweckt. Nicht nur zum Existieren, sondern auch zum Leben wollen. All dieses Adrenalin und sich mit anderen messen war genau das, worauf ich stand, was ich von klein auf geliebt habe. Da habe ich realisiert, dass ich das immer noch konnte.“


Und der erste Meilenstein ihrer aktiven Karriere hat auch nicht lange auf sich warten lassen: Im November 2002 holte sie ihren ersten Weltrekord bei den Deutschen Kurzbahnmeisterschaften über 50 Meter Brust. Darauf angesprochen beginnen ihre Augen zu strahlen und voller Inbrunst sagt sie: „Das war wie eine Droge für mich. Das hat mich so irre gepusht und bestätigt, dass das mein Weg ist, dass das einfach das ist, was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich bin dran geblieben, habe weiter trainiert, habe versucht aus meiner Muskulatur das herauszukitzeln, was eben geht. Ich wurde kräftiger, athletischer, ich mochte mich auch wieder selbst leiden. In der Anfangszeit im Rolli war ich wie ein schlaffer Sack. Ich war weder athletisch, noch fühlte ich mich jung und schon gar nicht schön. Je mehr ich in dieses stringente Training kam, umso glücklicher wurde ich auch wieder mit meiner Optik und, ich glaube, auch toleranter mit meiner Situation. Nachdem sie diese Sätze so begeistert beendet hat, möchte ich wissen, ob sie trotz ihres Handicaps glücklich auf ihr bisheriges Leben schaut. „Ich bin zufrieden. Glücklichsein ist auch kein permanenter Zustand“, entgegnet sie mir. Wo sie recht hat, hat sie recht. Wer – ob ohne oder mit Handicap – ist schon jeden Tag glücklich? „Allerdings kann ich definitiv sagen, dass ich häufiger glücklich als unglücklich bin“, untermauert sie noch ihre spürbar positive Lebenseinstellung. Glück zu empfinden fällt ihr nicht schwer. „Da war und bin ich ein recht einfacher Mensch. Ich kann mich durch viele Kleinigkeiten als glücklich definieren“, erklärt Kirsten Bruhn und fährt in Bezug auf ihre Anfangszeit im Rollstuhl fort: „Wenn ich zum Beispiel einem anderen Patienten helfen, ihm dadurch etwas geben konnte, dann war das für mich ein tolles Gefühl. Oder wenn meine Eltern zu Besuch kamen und meine Mama mir mein Lieblingsessen gemacht hat. Oder wenn mir meine Schwester meine erste Nichte, die im selben Jahr geboren wurde wie der Unfall geschah, auf den Schoß legte und mich die Kleine genauso glücklich angesehen hat wie jeden anderen Menschen auch, dann war das Glücklichsein für mich. Andere Menschen hatten mich stets mit etwas Traurigkeit und Ungewissheit im Blick angesehen. Wie geht es ihr? Wie können wir ihr helfen? Das tat die Kleine nicht. Sie war einfach nur glücklich, dass sie gehalten wurde und ihren Schnuller im Mund hatte. Das war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde.“ Man merkt ihr sofort an, dass dies ein Schlüsselerlebnis für sie war. Ein Blick in unsere leeren Kaffeetassen und ein weiterer auf die Uhr sagt uns, dass wir uns zum Ende des Gesprächs kommen müssen. Für Kirsten Bruhn steht der nächste Termin an. Es geht zu einer Charity-Veranstaltung. Auch dort möchte sie ihre positiven Gedanken weitergeben.«



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